

s wäre die Horrorvor-
stellung eines jeden
Schülers: eine Stadt mit
35 000 Lehrern. Das hat
man in Leer schnell erkannt
und sich – auch um die Tou-
risten nicht zu verschrecken
– für die Bezeichnung „Leera-
ner“ entschieden.
Doch die Touristen aus
München, Hamburg oder
Dortmund wollen das ein-
fach nicht akzeptieren. Und
so werden die Leeraner gern
von Besuchern gefragt: „Und
Sie sind Leerer?“ Die meisten
sind es nicht. Doch wer die
Menschen in der südlichsten
Kreisstadt Ostfrieslands ein
wenig näher kennenlernt,
kann aus dem Leben in der
Stadt einige Parallelen zum
Schulalltag ziehen.
Was die infrastrukturelle
Anbindung betrifft, ist die
Stadt an der Ems der ostfrie-
sische Klassenprimus. Es gibt
kein
Fortbewegungsmittel,
das in Leer keine Anbindung
findet. Mit dem Zug kann
man zum Beispiel ohne Pro-
bleme quer durch Deutsch-
land reisen. Bis München gab
es sogar für kurze Zeit einen
ICE, allerdings nur im Som-
mer und vielleicht im nächs-
ten Jahr gar nicht mehr. Ob
ICE oder ECE – in Leer hat
man damit einfach kein
Glück. Das ECE-Einkaufszen-
trum sollte ja auch irgendwie
die Innenstadt anbinden.
Vorweisen kann die Stadt da-
gegen einen eigenen Flug-
platz, und auch Kreuzfahrt-
E
schiffe fahren regelmäßig an
der Kreisstadt vorbei. Alles in
einer Stadt, alles über nur
drei Straßen erreichbar: In
Leer kann man es sich aussu-
chen, ob man in der Haupt-,
in der Heisfelder- oder auf
der Papenburger Straße im
Stau stehen möchte.
Glücklicherweise hat man
in der Politik seine Hausauf-
gaben gemacht und erkannt,
dass die Zukunft in der Lee-
raner Infrastruktur im Fahr-
rad liegt. Das merkt man
nicht an den buckeligen
Fahrradwegen.
Stattdessen
soll die Innenstadt umgebaut
werden, um sie fahrrad-
freundlicher zu gestalten –
ein bisschen. So, dass es ins
Budget passt und am besten,
wenn es auch dem Einzel-
handel genehm ist.
Ja, in Leer ist der Einzel-
handel der Coolste in der
Klasse. Er ist quasi die vierte
Gewalt: Exekutive, Legislati-
ve, Judikative und die Leffers-
lative. Die Geschäfte in der
Innenstadt locken jährlich
Tausende willige Einkäufer
nach Leer. Tag und Stunde
spielen da keine Rolle: Ver-
kaufsoffene Sonntage oder
Mitternachtsshopping wür-
den noch häufiger veranstal-
tet, würde nicht Verdi ab und
zu Dissonanzen anstimmen.
Meistens ist dann erst recht
Musik in der Stadt. Wer in der
Innenstadt noch nicht fündig
wurde, für den gibt es multi-
ple andere Möglichkeiten.
In den Pausen erholen
sich die Leeraner gern im
Grünen. Möglichkeiten gibt
es genug: So kann man zwi-
schen dem Evenburgpark,
dem Julianenpark und dem
Philippsburger Park wählen,
oder sich im Labyrinth des
Westerhammrichs verirren.
Dort kann auch der Biologie-
unterricht
aufgenommen
werden: Der Bestimmung
von Wildtieren kann nachge-
gangen werden oder dem
Studium
des
entblößten
menschlichen Körpers – ob
man will oder nicht.
Die Parks weisen eine Viel-
zahl von Bäumen auf. Dort
stehen die stillen Riesen ja
auch sehr sicher. In anderen
Bereichen der Stadt ist das
anders. Baum zu sein in Leer
ist schwer. Einmal am fal-
schen Platz und schon wird
an einem gesägt. Und es gibt
dann immer einen, der sagt:
„Oh, da haben wir aber wohl
nicht richtig aufgepasst.“
An das Spielchen Rathaus
gegen Rat haben sich die
Bürger fast gewöhnt. Dabei
macht es fast keinen Unter-
schied, wer gerade als Rektor
im Rathaus sitzt. Gestritten
wird immer. Als Leeraner
fragt man sich allerdings
manchmal schon, wie viele
Eskalationsstufen bis zur er-
sehnten Hochschulreife man
noch
erklimmen
muss.
Schaut man in den Leis-
tungskurs Stadt-Politik, sind
es viele, viele Jahre. Selbst
dann ist bei dem ein oder der
anderen ein Ende nicht in
Sicht. Wer unter 30 Jahren
Teilnahme den Leistungskur-
sus verlässt, kann offenbar
seinen Abschluss vergessen.
Ein Mittel zum besseren Ab-
schneiden ist übrigens, mög-
lichst viele Referate zu hal-
ten.
Wer doch mit Leer ab-
schließt und in die weite Welt
zieht, bleibt erfahrungsge-
mäß entweder nicht lang weg
oder erlangt wahre Berühmt-
heit. Leeraner Klassenmit-
glieder sind zum Beispiel po-
litische Größen wie Ernst
Reuter. Er war langjähriger
Oberbürgermeister von Ber-
lin während der Berliner Blo-
ckade und wuchs in Leer auf.
Auch künstlerisch machten
sie sich einen Namen, wie
der in Leer geborene Sänger
Enno Bunger oder Karl Dall,
der hier seine Jugend ver-
brachte, zeigen.
Ein Sohn der Stadt stellt
die anderen allerdings in den
Schatten: Nur einer erkannte,
was die wirklich wichtige Fra-
ge in Leer und Ostfriesland
ist. Und nur er erklärte sie
ganz Deutschland, Europa,
wahrscheinlich sogar der
ganzen Welt. Denn nur ein
sehr blonder Mann namens
Hans-Peter Gerdes, der sich
H.P. Baxxter nennt, fragte mit
seiner Musik-Combo Scoo-
ter: „How much is the fish?“
ImfliegendenKlassenzimmer über dieEms
MEIN LEER
Leerer oder Leeraner – das ist hier die Frage: Nikola Nording beantwortet sie – nicht ganz ernst gemeint
VON NIKOLA NORDING
In Leer geht es oft zu wie in der Schule, meint Nikola Nording.
BILD: ORTGIES
s war einmal eine Stadt,
die war stolz darauf,
das Zentrum Ostfries-
lands zu sein. Ein Zen-
trum mit 42 000 Einwohnern,
aber ohne Bahnhof und ohne
Autobahnanschluss. Das gibt
es nur in Aurich.
Der Stolz hat historische
Wurzeln. Im 16. Jahrhundert
wurde Aurich Hauptstadt der
Grafschaft und des späteren
Fürstentums Ostfriesland, im
19. Jahrhundert Hauptstadt
des Regierungsbezirks. Im
und um das Schloss, wo einst
Grafen residierten, sind heu-
te Behörden wie das Landge-
richt, die Staatsanwaltschaft
und das Niedersächsische
Landesamt für Bezüge und
Versorgung ansässig. Mit an-
deren Worten: Aurich hat ei-
ne jahrhundertealte Traditi-
on als Beamtenstadt.
Zum industriellen Schwer-
gewicht wurde die Beamten-
stadt durch den Windanla-
genhersteller Enercon. Das
Unternehmen wurde 1984
von dem Emsländer Aloys
Wobben gegründet und ist
dem Stammsitz Aurich bis
heute treu. 2013 erreichten
die
Gewerbesteuereinnah-
men – vor allem dank Ener-
con – den Rekordwert von
166,7 Millionen Euro. Das
sind Zahlen einer Großstadt.
Schon damals gab es war-
nende Stimmen: Man dürfe
nicht so tun, als ginge das
immer so weiter. Kaum je-
mand wollte das hören. Der
E
plötzliche Reichtum stieg
vielen im Rathaus zu Kopf.
Das Geld wurde mit vollen
Händen ausgegeben. Kinder-
gartengebühren? Die hat Au-
rich schon vor Jahren abge-
schafft. Die umliegenden Ge-
meinden konnten nur nei-
disch zuschauen. Die Feuer-
wehren wurden gut ausge-
stattet. Vereine mussten nur
sagen, wie viel sie brauchen,
dann flossen die Zuschüsse.
Als 2012 der Umbau des
Georgswalls geplant wurde,
geriet Aurich in die Schlag-
zeilen: Man wollte eine
320 Meter lange Bank aus
Granit bauen lassen. Kosten-
punkt: bis zu eine Million Eu-
ro. Mit einer Nachfrage beim
Bund der Steuerzahler löste
die Ostfriesen-Zeitung da-
mals ein bundesweites Medi-
enecho aus. Die „Georgs-
bank“ wurde am Ende doch
nicht gebaut. Die Stadt leiste-
te sich jedoch andere teure
Neubauten, unter anderem
ein Schwimmbad, ein Famili-
enzentrum und das Energie-,
Bildungs- und Erlebniszen-
trum (EEZ). Das EEZ, eröff-
net 2015, sollte zum Zentrum
der Windkraft und zum Tou-
ristenmagneten
werden.
Wurde es nie. Das an ein
Raumschiff erinnernde Ge-
bäude, das 26,8 Millionen
Euro gekostet hat, steht heu-
te weitgehend unbeachtet im
Stadtteil Sandhorst und ver-
ursacht nichts als Kosten, die
der Stadt wehtun.
Denn mit Enercon geht es
bekanntlich seit Jahren berg-
ab. Zudem musste Aurich ei-
nen Teil der Steuermillionen
zurückzahlen, weil sie ande-
ren Enercon-Standorten zu-
standen. Kurz und gut: Die
Geldquellen sprudeln nicht
mehr, in der Haushaltspolitik
ist Schmalhans Küchenmeis-
ter. Und nun noch Corona.
Bürgermeister Horst Fed-
dermann (parteilos), seit
knapp einem Jahr im Amt,
würde das EEZ am liebsten
dichtmachen, doch so ein-
fach ist das nicht. Er wird die
Altlasten nicht los. Ein ande-
res Auricher Prestigeprojekt
wird derweil abgewickelt: die
Stadtwerke. Sie wurden einst
von der Stadt und der Firma
Enercon gegründet, um das
goldene Zeitalter der Wind-
energie einzuläuten: grüner
Strom aus Aurich für Aurich,
vertrieben im eigenen Netz.
Auch dieser geplatzte Traum
kostet den Steuerzahler Mil-
lionen.
Mensch Aurich, wärst du
nur ein bisschen bescheiden
geblieben. Eigentlich bist du
wunderschön. Wer das nicht
glaubt, der sollte zur Schleu-
se Kukelorum fahren. In der
urigen Schankwirtschaft in-
mitten der Wallheckenland-
schaft am Ems-Jade-Kanal
feierte einst der Liederma-
cher Hannes Flesner legen-
däre Geburtstagspartys. Fast
40 Jahre nach seinem Tod fei-
ern seine Fans weiter, wenn
sie nicht gerade durch eine
Pandemie gebremst werden.
Was der „Schangsongjeh“
wohl über das EEZ gesagt
hätte? Wir können ihn leider
nicht fragen. So bleibt nur
die Hoffnung in Form eines
seiner Songtitel: „Verstand
kummt mit Jahren“. Hoffent-
lich nicht zu spät für Aurich.
WasHannes Flesnerwohl über dasEEZgesagt hätte?
MEIN AURICH
Der braven Beamtenstadt Aurich sind die Millioneneinnahmen zu Kopf gestiegen – jetzt ist die Party vorbei
VON MARION LUPPEN
Marion Luppen steht vor dem Sinnbild des Auricher Größenwahns, dem EEZ.
BILD: ORTGIES
„Wenn man wissen will, was in der Region los ist, ist es
das Einfachste, die OZ zu lesen. Sie ist ortsgebunden,
informativ, aktuell.“
Rudi-Philipp Opper, Großefehn
Freitag, 9. Oktober 2020, Seite 44