

„Mir gefällt an der OZ, dass ich über die wichtigsten
Ereignisse der Region Ostfriesland informiert werde.
Jeden Morgen freue ich mich über den Newsletter aus
der Chefredaktion.“
Hergen A. Sanders, Leer
Freitag, 9. Oktober 2020, Seite 46
erbert
Grönemeyer
hat es geschafft: Er
zog sich im Januar
1984 in ein Tonstudio
zurück und schrieb eine
Hymne auf seine Heimat-
stadt: Bochum. Der Song
drückt in 3:50 Minuten seine
ganze Zuneigung aus, seine
Kritik, seine Liebe. Selbst die,
die nie in Bochum waren,
verstehen nach dem Lied,
was diese Malocherstadt aus-
zeichnet. Nun bin ich weder
Grönemeyer noch Musiker.
Ich bin Journalist. Und ich
schreibe jetzt nicht über Bo-
chum. Aber wenn es gut
läuft, haben Sie am Ende die-
ser Zeilen eine Vorstellung
von Emden, genauer: von
meinem Emden. Auf geht’s.
Eines vorweg: Ich bin kein
Emder. Ich bin in Wilhelms-
haven zur Welt gekommen,
was in vielerlei Hinsicht nicht
so weit von Emden entfernt
ist. Es gibt Parallelen: die
Kreisfreiheit und schmucklo-
se Straßen, die glorreiche
Fußballvergangenheit,
die
Marine und die Nähe zum
Tiefwasser. Häfen gibt es auf
der ostfriesischen Halbinsel
ja zuhauf. Leer hat einen, Au-
rich auch. Aber das ist nicht
dasselbe: Durch den Emder
Hafen weht schon immer ein
anderer Wind – er ist rauer,
schmeckt nach echter See-
fahrt und trägt fremde Spra-
chen bis weit in die Stadt.
Leer mag das Tor zu Ostfries-
land sein. Emden ist das Tor
zur Welt.
H
Als ich 2014 nach Emden
kam, wusste ich wenig über
die Stadt und ihre Menschen.
Ich kannte bis dahin nicht
viel mehr als die Fußballplät-
ze von Rot-Weiß, Kickers,
Borssum oder Larrelt. Mit
meiner Mannschaft hatte ich
mich als Mittelfeldspieler
hier Jahr für Jahr gegen dro-
hende Niederlagen gestemmt
– Emden war eine Hochburg
im Sport, kaum einzuneh-
men. Wenn unser Bus über
die Auricher Straße hierher
rollte, kam mir der Anblick
der schmucklosen 1950er-
Jahre-Klinkerbauten und der
austauschbaren
Geschäfts-
fassaden im Zentrum jedes
Mal vertraut vor: Die Stadt
versprühte
den
gleichen
spröden Charme wie Wil-
helmshaven. Erst viel später
entdeckte ich im langen
Schatten von VW und den
Nordseewerken auch die an-
deren Seiten.
Mein Emden putzt sich
selten fein heraus. Es ist un-
geschminkt schön. Zwischen
Wasser, Wall und Friesenhü-
gel finden sich unscheinbare
Wohlfühlorte, von denen
man in Aurich oder Leer viel-
leicht noch nie gehört hat.
Denn es wird nicht gerne laut
darüber gesprochen, schon
gar nicht in der Stadt selbst –
mein Emden pflegt sein
schlechtes Image. Die Altein-
gesessenen schimpfen über
die Unzulänglichkeiten. Sie
merken dabei nicht, wie un-
glaubwürdig sie sind. Denn
ihre ganze zur Schau getrage-
ne Unzufriedenheit fällt in
sich zusammen, sobald sie
die Stadtgrenze verlassen.
Außerhalb Emdens lassen die
Meckerpötte nichts auf ihre
Stadt kommen. Aber rein gar
nichts.
Mein Emden hält nämlich
große Stücke auf sich. Mein
Emden hat eine Kunsthalle
und feiert im Klub zum guten
Endzweck, diesem nach Elite
und schwerreicher Vergan-
genheit klingenden Ort. Die
Realität vor den Türen des
Klubs ist längst eine andere.
Auch sie ist international,
aber moderner und zeitge-
mäßer. In ihr tummeln sich
weniger gut betuchte Kauf-
leute und alter Reformations-
adel aus den Niederlanden.
In ihr genießen Emder mit
ostfriesischen oder fremdlän-
dischen Wurzeln gemeinsam
die Freiheit am Ratsdelft.
Mein Emden ist blau, was
nicht nur an einer bemer-
kenswert hohen Kneipen-
dichte liegt. Wasserstraßen
führen in alle Himmelsrich-
tungen. Auf ihnen schippert
der VW-Arbeiter gerne sein
Bootje durchs Grüne – die
Freizeit und der Tariflohn
wollen schließlich genutzt
sein. Und warum dazu allzu-
weit in die Ferne schweifen?
Emden hat ein Matjesfest,
Emden hat einen der besten
Wochenmärkte in Ostfries-
land. Emden hat viel zu bie-
ten. Der Stadt fehlt eigentlich
nur eine Hochschule. Ach ja!
Angeblich soll es schon eine
geben. Angeblich sind hier
Semester für Semester weit
mehr als 4000 Studierende
eingeschrieben. Ich habe so
meine Zweifel daran. Denn
außerhalb des Cafés Einstein
und der FE 47, der sagenum-
wobenen WG an der Fried-
rich-Ebert-Straße, kann ich
selten Studenten entdecken.
Ach mein Emden: Dein
Herz schlägt nicht aus Stahl.
Und du bist auch nicht stän-
dig auf Koks. Du bist anders,
du bist eigen. Und das ist gut
so.
26721– eineHymne auf dieungeschminkte Stadt
MEIN EMDEN
Im langen Schatten von VW und den Nordseewerken wird das schlechte Image mit Hingabe gepflegt
VON GORDON PÄSCHEL
Emden-Redakteur Gordon Päschel ließ sich beim Schreiben von den Delftspuckern inspirieren.
BILD: ORTGIES
ls
Grundschulkind
rumorte ich unbe-
schwert am Witt-
munder
Stadtrand
herum und durchstreifte mit
meinem Hund, einem echten
Blomberger Dorfköter, Wie-
sen und Felder. Die Finken-
burgschule war Anfang der
1990er Jahre mein Arbeits-
platz, der Pudding einer mei-
ner liebsten Spielplätze. Zwi-
schen Eis Willis Straßenecke,
Kaufhaus
Weichers
und
Spielwaren Schmied habe ich
so manche schöne Stunde er-
lebt. Damals war mein Witt-
mund zwar klein – aber
durch und durch aufregend
und liebenswert.
Wenig später zog es mich
nach Friesland, danach hi-
naus in die Welt. Die Ent-
scheidung, ausgerechnet in
Wittmund als Journalistin für
Land und Leute tätig zu sein,
lag wohl nahe – und ergab
sich wie von selbst. Obwohl
einer der kleinsten Landkrei-
se in Deutschland, hat Witt-
mund doch so viel zu bieten:
wunderbare
Sielorte
mit
mehr Touristen als Möwen,
mächtig viel Wind von vorn
dank einer schier unendli-
chen Anzahl von Windkraft-
anlagen und eine Alarmrotte
der Luftwaffe. Kinder zeigen
begeistert mit dem Finger auf
die Jets am Himmel und wol-
len sich zugleich schreiend
die Ohren zuhalten.
Wittmund hat einen be-
sonderen Reiz, dem auch
A
Landrat Holger Heymann
(SPD) erlegen ist: Statt als
Landtagsabgeordneter
in
Hannover verbringt er seine
Zeit lieber im Wittmunder
Kreishaus. Heymann ist Holt-
riemer Jung und ohne etwas
Wind von vorn fehlte ihm
vermutlich etwas.
Denn zwischen Neuhar-
lingersiel und Marx, Fulkum
und Asel läuft nicht immer
alles glatt. Einer wünscht sich
mehr Windräder, der andere
aber kann dann nicht schla-
fen, weil die irrsinnig laut
sind und monströse Schatten
werfen. Die Kavernen spülen
ordentlich Geld in die Friede-
burger
Ge-
meindekasse.
Anwohner
aber sorgen
sich,
sie
könnten auf
einem
sprichwörtli-
chen Pulver-
fass
leben.
Die
Umge-
hungsstraße
von Benser-
siel
sollte
dem Ortskern die touristi-
sche Weiterentwicklung er-
möglichen. Blöderweise ist
sie aber für den Verkehr ge-
sperrt.
Mein Wittmund ist ein
Landkreis voller Widersprü-
che – und damit voller Le-
ben, Leidenschaft und Mög-
lichkeiten. Die Menschen lie-
ben es, ihre Ruhe zu haben –
aber feiern auch ausgelassen
miteinander. Das Schützen-
fest in Esens lockt regelmäßig
Zehntausende an. Es wird ge-
redet,
getanzt
und
das
Brauchtum
hochgehalten.
Auf dem Bürgermarkt in
Wittmund liegen sich Freun-
de und Fremde in den Ar-
men. An solch besonderen
Tagen sind gern alle ein biss-
chen Wittmund. Der Kreis-
stadt-Bürgermeister
Rolf
Claußen (parteilos) zumin-
dest glaubt fest daran: „Wir
sind Wittmund“ ist vermut-
lich sein Lieblingsspruch.
Auch mich empfängt mein
Wittmund immer mit offe-
nen Armen, wenn ich über
die goldene Linie, die die
Landkreise Wittmund und
Friesland trennt, einreise. So
bin auch ich stets ein biss-
chen Wittmund.
Mein Wittmund als Le-
bensgefühl. Ein Lebensraum
für Macher, für Mutige. In
Wittmund brennt ein und
derselbe
Elektronik-Fach-
handel gleich zweimal nie-
der. Und wird voller Taten-
drang
wieder
aufgebaut.
Steht ein Teil der Gesamt-
schule in Flammen, wird er
einfach schöner, funktionaler
und moderner wieder aufge-
baut.
Herausforderungen
scheut man in diesem Teil
Ostfrieslands wahrlich nicht.
Bescheidenheit
und
Freundlichkeit sind Tugen-
den, die viele Wittmunder
ausmachen: So produziert
man in Holtriem gebrannte
Klinker oder am Rande der
Kreisstadt Fensterbeschläge
für das ganze Land. Damit
geprahlt wird nicht. Mein
Wittmund freut sich stattdes-
sen lieber still und heimlich
über die vielen Arbeitsplätze,
die heute zur Auswahl ste-
hen. Diese ehemals wirt-
schaftlich benachteiligte Re-
gion macht ihren Weg, ganz
unaufgeregt.
Mein Wittmund wächst
und gedeiht. Junge Men-
schen bleiben in ihrer Hei-
mat und arbeiten daran, sie
noch schöner zu machen.
Warum auch nicht? Mein
Wittmund macht vieles mög-
lich: ein Haus bauen, einen
Baum pflanzen, ein Kind
zeugen. Zeugen ja, zur Welt
bringen nein: Im Wittmunder
Krankenhaus wird man bes-
tens umsorgt, Kinder bekom-
men aber ist seit 2019 vorbei.
Damit gibt es immer weniger
„echte“ Wittmunder, die dies
per Geburtsurkunde belegen.
Aufziehen aber kann man
Kinder im grünen Landkreis
mit dem maritimen und hin
und wieder politischen Reiz-
klima gut: Die Städte und Ge-
meinden erschließen attrak-
tives Bauland, damit sich hier
jeder einrichten kann, wie es
ihm beliebt. Das und andere
Vorzüge locken Auswärtige
an. Manche spülte der Krieg
an die Küste.
Diese „Wittmunder 2.0“
entdecken so manches, was
für Alteingesessene längst
Alltag ist. „Wir sitzen alle in
einem Boot“ ist so viel mehr
als der Titel der Skulptur vor
dem Kreishaus. Mein Witt-
mund hat die Ruder selbst in
der Hand. Im Dialog wird es
noch bunter, aufgeschlosse-
ner und liebenswerter. Ich
freue mich schon drauf, wei-
terhin Wittmund zu sein.
DieseRegionmacht ihrenWeg–ganzunaufgeregt
MEIN WITTMUND
Schützenfest und Luftwaffe: Hier lässt man es bei aller Bescheidenheit gerne so richtig krachen
VON SUSANNE ULLRICH
Wenn die Esenser ihr Schützenfest feiern, sind Groß und Klein aus ganz Ostfriesland da-
bei.
ARCHIVBILD: ULLRICH
Susanne
Ullrich