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„Alles Gute! Ich bin Butenostfriesin, aber die OZ ist noch

Teil meines Lebens. Ob online oder weil mir meine Mut-

ter immer ausgeschnittene Artikel von Euch zuschickt.“

Sontka Romaneessen, Ludwigshafen am Rhein

Freitag, 9. Oktober 2020, Seite 40

ür was ist Ostfriesland

eigentlich über seine

Grenzen hinaus be-

kannt? Otto Waalkes,

Tee, Ostfriesenwitze und die

Inseln – zumindest dürften

das die landläufigen Assozia-

tionen sein, wenn das Wort

Ostfriesland fällt. Doch seit

Jahrzehnten mausert sich die

Halbinsel auch immer mehr

zu einer kulturellen Region,

die eine immer stärkere

Strahlkraft entwickelt – und

auch zunehmend für ihre

Vielfalt

wahrgenommen

wird.

Es ist schier unmöglich,

allen Kulturveranstaltern und

-orten in einem Artikel ge-

recht zu werden. Vom klei-

nen bis zum großen Mu-

seum, von der Live-Musik in

der Kneipe, in Kirchen und

Gulfhöfen bis hin zu den gro-

ßen Konzerten und Veran-

staltungen in der Auricher

Sparkassen-Arena, dem Lee-

raner Zollhaus oder der Em-

der Nordseehalle. Doch was

macht das Kulturland Ost-

friesland aus? Wir haben drei

Kulturschaffende gefragt.

Das ostfriesische

Publikum

„Alles, was etwas anders ist,

das wird von den Ostfriesen

gut angenommen“, sagt bei-

spielsweise Holger Müller,

den viele als „Ausbilder

Schmidt“ kennen dürften.

Doch der 51-Jährige hat noch

viel mehr im Repertoire –

und einen seiner Wohnsitze

in der Krummhörn. Experi-

mentierfreudig seien die Ost-

friesen, „Lust auf Schräges“

hätten sie – und Lust auf Ab-

wechslung. „Auch wenn ich

kaum selbst Veranstaltungen

besuchen kann, ich bekom-

me schon mit: Hier gibt es

ein

relativ

großes

Pro-

gramm“, sagt Müller.

Für die gebürtige Auriche-

rin Annie Heger zeichnet die

Ostfriesen vor allem aus,

„dass sie dir nach dem Auf-

F

tritt immer noch etwas sagen

wollen“, egal ob nun Lob

oder Kritik. „Aufstehen und

gehen, das tut hier nie-

mand“, ist ihre Erfahrung.

Nur mit der Komik, das sei

manchmal so eine Sache.

„Ostfriesen beben innerlich

oft vor Lachen, zeigen es aber

nicht unbedingt nach au-

ßen.“

Die Wahrnehmung

Ostfrieslands

Doch was dringt nach außen?

Nur der Pilsumer Leucht-

turm, der in der Erfahrung

von Holger Müller „eine un-

glaubliche Strahlkraft hat“,

und Otto Waalkes? Die Wahr-

nehmung durch Nicht-Ost-

friesen ist tatsächlich mitun-

ter ein Problem, ist sich He-

ger sicher. Sie ist zwar über-

zeugt: „Ostfriesland ist defi-

nitiv eine kulturelle Hoch-

burg.“ Allerdings: „Aber eine

unterschätzte.“ Unterschätzt

werde sie dabei nicht von

den Ostfriesen. Vielmehr sei-

en es die, die Ostfriesland auf

Ostfriesenwitze reduzieren,

ist die Musikerin, Kabarettis-

tin, Schauspielerin, Modera-

torin und begeisterte Platt-

schnackerin überzeugt. „Wir

scheinen oft noch auf Dönt-

jes, Waalkes und Krabben-

brötchen reduziert zu wer-

den“, stellt sie mit Bedauern

fest. Dabei hätten schon

Frauen wie Wilhelmine Sief-

kes oder Greta Schoon vor

Jahrzehnten in ihren Texten

gezeigt, wie weitsichtig und

unterschiedlich die Men-

schen hier sind – und gleich-

zeitig

das

Plattdeutsche

schon weit über den Status

des Döntjes erhoben. Da

schlägt bei Heger vor allem

die Liebe zu ihrer „Herzens-

sprache“ Plattdeutsch durch.

Dass Plattdeutsch mehr als

nur Klamauk ist, das zeigen

Heger, Jan Cornelius, aber

auch Youtuber und Blogger

in den vergangenen Jahren

immer und immer wieder –

und bereichern so das kultu-

relle Leben.

Die Weite Ostfrieslands

nutzt eines der hochkulturel-

len Leuchtturmprojekte: die

Gezeitenkonzerte. Und damit

beweisen die Organisatoren

seit einigen Jahren ziemliche

Weitsicht. „Wir gehen in die

Fläche und bespielen wun-

derbare, auch kleine Kultur-

orte

mit

renommierten

Künstlern“, sagt Raoul-Phi-

lipp Schmidt. Der 39-Jährige

organisiert seit 2019 die Ge-

zeitenkonzerte. „Wir bieten

etwas, was es sonst eher in

Großstädten

gibt“,

sagt

Schmidt, „und bedienen da-

bei nicht nur die klassische

Hochkultur“.

Die ostfriesische

Vielfalt

Aber nicht nur die Vielfalt in-

nerhalb eines Angebots wie

den Gezeitenkonzerten ist es,

was für Schmidt Ostfriesland

zum Kulturland macht. „Es

gibt so viele Perlen in der Re-

gion“, sagt er. Als Beispiele

nennt er den Orgelfrühling in

der Krummhörn, aber auch

die „kommerzielle Kultur“,

wie sie in den größeren Hal-

len gespielt wird.

Doch nicht nur in „norma-

len Zeiten“ könne sich das

kulturelle Leben Ostfries-

lands blicken lassen, sind

sich die drei Gesprächspart-

nerinnen und -partner einig.

In der Corona-Krise, die den

Kulturbetrieb

besonders

nachhaltig störte und stört,

zeige sich, dass Ostfriesland

auch Kultur anders angehen

kann. Die Gezeitenkonzerte

sind auf Streamingformate

umgestiegen – und Annie He-

ger freute sich über die Flexi-

bilität „der altehrwürdigen

Institution

Ostfriesische

Landschaft“. Was hier auch

in Bezug auf den plattdeut-

schen Monat „digital ge-

wuppt“ wurde, darauf sei sie

„sehr stolz“.

Die Zukunft der

ostfriesischen Kultur

Aber was birgt die Zukunft

für das Kulturland Ostfries-

land? Für Heger ist klar, was

die Kultur aus der Region

über die Experimentierfreu-

de und die besonderen Ver-

anstaltungsorte hinaus aus-

macht: „unsere Herzensspra-

che!“ Bei allem, was an Inno-

vation entsteht, solle die Re-

gion ihre Wurzeln nicht ver-

gessen. „Das wünsche ich

mir für die Zukunft“, sagt sie.

„Wir sind Plattopoliten“ und

obgleich das Plattdeutsche

immer mehr aus dem Alltag

verschwinde, gebe es mittler-

weile eine Gegenbewegung,

die sich – auch online – ein

plattdeutsches Metropolis er-

schaffe.

Für Holger Müller ist es

derweil wichtig, dass auch an

die Touristen gedacht wird.

„Orgel-Frühling,

Schlick-

schlitten-Rennen: All das ist

für Touristen interessant und

wichtig“, sagt er. Schmidt

wünscht sich, dass das ost-

friesische Publikum seine Of-

fenheit behält – und dass

Auswärtige weiter zahlreich

auf die Halbinsel kommen.

Die ostfriesische

Infrastruktur

Apropos nach Ostfriesland

kommen: Was das angeht,

dürfe man die jungen Leute

nicht vergessen, betont wie-

derum Heger. Gemeint ist

damit nicht das Programm,

sondern die Mobilität. „Ich

würde den Heranwachsen-

den in Ostfriesland wün-

schen, nicht immer auf die

Eltern angewiesen zu sein.“

Fehlender öffentlicher Nah-

verkehr sei ein Problem.

„Wenn es mehr Züge oder

Busse gäbe, dann wäre das

Schaffen, aber auch das Ge-

nießen von Kultur so viel ein-

facher“, sagt Annie Heger, die

sich selbst übrigens als über-

zeugte

Nicht-Autofahrerin

bezeichnet. Denn die Wege

in Ostfriesland seien lang –

und ohne Auto nicht immer

zu schaffen.

Was bleibt, was

kommt?

In den vergangenen 70 Jah-

ren hat Ostfriesland viel an

Kultur gesehen. Theaterstü-

cke wurden aufgeführt, Ottos

Filme kamen in die Kinos,

Museen wurden gegründet

oder neu gestaltet, die Kunst-

halle Emden wurde eröffnet,

Popper, Rocker, Punks, Schla-

gerfans, Hip-Hopper oder

Emos bestimmten Bild und

Musik in Discotheken. Die

Beatsteaks auf der Abifete in

Aurich, Die Ärzte in der sti-

ckigen Nordseehalle, Enno

Bunger, Jan Cornelius, der

Youtuber Taddl, H. P. Baxxter,

die Kelly Family auf dem Au-

richer Marktplatz, Konzerte

in kleinen Kneipen, Knall-

frosch Elektro, Anstehen am

Zollhaus, das Pixxen-Festival

oder die zahlreichen hiesigen

Musiker – das kulturelle An-

gebot in Ostfriesland ist im

steten Fluss. Trends und Mu-

sikerinnen und Musiker ka-

men und gingen, Veranstal-

tungsorte

öffneten

und

schlossen wieder. Die Aus-

wirkungen der Corona-Krise

auf die Entwicklung der kul-

turellen Szene können der-

weil noch gar nicht abge-

schätzt werden, das 70. Jahr

ist ein Jahr der Ausnahmen

und Herausforderungen.

„Wir kämpfen aktuell um

jeden Zuschauer“, sagt Mül-

ler, der unter anderem mit

seinem „Lachbus ohne Bus“

unterwegs ist. Heger, die im

Oktober zum Klönschnack

im Leeraner Zollhaus erwar-

tet wird, blickt ebenfalls ge-

spannt in die Zukunft. „Es

sind schwierige Zeiten“, auch

wenn die ersten kulturellen

Veranstaltungen wieder lau-

fen. Im September schrieb

Heger auf Facebook, „dass

unser

berufliches

Leben

noch lange nicht wieder ei-

ner Normalität entsprechen

wird“ – selbst wenn es wieder

Auftritte gebe.

Ostfriesland=völligunterschätztesKulturland!?

REGION

Wir haben mit drei Kulturschaffenden über Leuchttürme, Plattdeutsches und die Zukunft gesprochen

VON CLAUS ARNE HOCK

Zwischen Punk und Klassik: Die ostfriesische Kulturlandschaft ist vielfältig und hat sich in den vergangenen Jahren deutlich gemausert.

BILDER: ORTGIES/GEZEITENKONZERTE

Leben und lieben Kultur:

Holger Müller ...

... und Plattschnackerin

Annie Heger.

BILD: JAGUSCH

... Raoul-Philipp Schmidt

(Gezeitenkonzerte) ...