

oin, liebstes Ost-
friesland. In den
folgenden
Zeilen
widme ich dir eine
Liebeserklärung. Mit der An-
rede habe ich schon den ers-
ten Punkt auf meiner Liste
von den zehn Dingen, die ich
besonders an dir liebe, abge-
hakt: die Begrüßungsformel.
Im deutschen Sprachraum
hat kaum ein Wort eine aus-
sagekräftigere Wirkung als
dieses „Moin“. Denn dahin-
ter verbirgt sich nicht nur ei-
ne Floskel; die Betonung und
Art des „Moins“ sagen mehr
als Tausend Worte. Ist das
Gegenüber gesprächsbereit
oder gar grimmig? Nun, an-
hand des Klangs lässt sich
das in Sekundenschnelle he-
rausfinden. Damit wäre auch
schon (fast) alles gesagt.
2. Das
unfassbar
schlechte Internet:
Zugege-
ben, das erscheint zunächst
nicht allzu attraktiv. Doch be-
ginnen wir in meiner Jugend:
In dieser Zeit hast du mir, lie-
bes Ostfriesland, schlaflose
Nächte beschert. Wollte ich
doch bis spät in die Morgen-
stunden hinein via ICQ und
Facebook meiner Jugendlie-
be schreiben. Auch, wenn
das nur hieß, dass man sich
Smileys schickte. Doch im-
merhin zeigten wir so einan-
der, dass wir noch da sind, ir-
gendwo mitten in der Nacht;
da, am anderen Ende der Lei-
tung. Und was für einer Lei-
tung: Denn selbst für die
Smiley-Texterei saß ich näch-
telang, das Klapphandy in
der Hand, mit Ringen unter
den Augen und meinem Va-
ter schimpfend hinter ver-
schlossener Tür, allein vor
diesem Router, als wäre er ei-
ne Art Altar. Weiter weg durf-
te ich mich nicht bewegen.
Denn du, liebes Ostfries-
land, bringst es fertig, dass
jeder einzelne Internetanbie-
ter vor dem Haus meiner El-
tern in die Knie geht. Tat-
M
sächlich hatte ich in meinem
Urlaub vor zwei Jahren in
Bulgarien, wo faustgroße Lö-
cher in der Straße klafften,
besseres Internet als hier, bei
dir.
Nur eine Sache, die hat
sich mit der Zeit geändert:
Was mich früher in den
Wahnsinn trieb, lässt mich
heute beim Eintreten in mein
Elternhaus aufseufzen: end-
lich einmal kein Internet.
Endlich einmal nicht erreich-
bar sein. Endlich einmal da
sein. Hier, bei dir.
3. Die Prise Heimat für
den Alltag
: Ich erinnere mich
noch gut daran, wie ich vor
Jahren herzhaft darüber lach-
te, als mir eine Bekannte er-
zählte, sie hätte ostfriesi-
sches Leitungswasser mit in
den Urlaub genommen. Das
Wasser andernorts schmecke
nicht, sagte sie. Damals
wusste ich nicht, dass es ihr
vermutlich gar nicht so sehr
um das Wasser ging, sondern
um den Tee.
Erst voriges Jahr ertappte
ich mich selbst dabei, wie ich
meine Teedose mit der Ost-
friesen-Mischung samt Filter
in meinem Koffer verschwin-
den ließ, bevor ich nach Grie-
chenland flog. Sicher ist si-
cher. Nachher gibt es da nur
diesen wässrigen Darjeeling
oder schlimmer noch: Earl
Grey. Nein, bevor ich Spül-
mittel trinke, nehme ich lie-
ber den Tee mit.
Dieses Jahr klagte ich wäh-
rend der Arbeit beim Aufko-
chen des Hamburger Lei-
tungswassers über dessen
hohen Kalkgehalt. Meine Kol-
legen und Kolleginnen be-
trachteten mich wie einen
Vertreter einer seltenen Spe-
zies. Zuvor hatte ich bereits
den Kaffee aus der sündhaft
teuren Barista-Kaffeemaschi-
ne verschmäht. Erst da fiel
mir auf, dass es mir gar nicht
so sehr um den Tee und das
Wasser an sich ging. Zweifels-
ohne – das weiche Leitungs-
wasser in Ostfriesland ist für
den Teekonsum prädestiniert
(das weiß jeder Ostfriese).
Und auch der Tee selbst ist
der Beste (das weiß auch je-
der Ostfriese). Doch eigent-
lich ist der Ostfriesentee viel
mehr – eine Prise Heimat im
Alltag. Und wer weiß? Viel-
leicht fülle ich mir dem-
nächst auch noch ostfriesi-
sches Leitungswasser ab.
4. Die Sterne, die am Him-
mel blinken:
Etwa ein halbes
Jahr nach meinem Umzug in
die Großstadt fiel mir auf,
dass mir etwas fehlt. Es war
Herbst und Nacht und ich
auf dem Nachhauseweg von
einem Abend in der Bar mit
Freunden. Und während ich
so lief, tat ich etwas, dass ich
seit meiner Jugend machte,
wenn ich spät abends nach
Hause lief: Ich schaute nach
oben. Doch statt in die Ster-
ne zu blicken, sah ich nur Ei-
nes: Nebel. Das Licht der
Großstadt hatte die Sterne
verschluckt. Auch deshalb
liebe ich dich so sehr, liebes
Ostfriesland. Ich meine, du
holst mir die Sterne vom
Himmel, was will ich mehr?
5. Dass man hier „auf
Wolken schwebt“:
Jüngst zog
eine Kommilitonin zurück in
den Süden. Der Grund: Sie
hält das Wetter im Norden
nicht mehr aus. Das andau-
ernde Grau am Himmel
schlage ihr auf aufs Gemüt.
Ich verstehe noch immer
nicht ganz, was sie damit
meint. Wo doch der Himmel
erst dann schön ist, wenn ein
paar Wolken aufziehen. Und
hier, bei dir, liebes Ostfries-
land, ganz besonders: Ein
stetig wechselndes Potpourri
aus weißen und grauen
Klecksen, nie gleich. Also lass
dir bloß nichts Falsches ein-
reden. Blau kann jeder.
6. Die weißen Kronen
der Nordsee:
Wellen werfen
weiße Kronen ins Wasser.
Kreischende Möwen hängen
wie steigende Drachen am
Herbsthimmel. Wind fegt fei-
ne Sandkörner über den
Strand. Die Nordsee, die zu
meinen Füßen liegt, wirkt
wie eine Verlängerung des
Himmels, die Grautöne ge-
hen
fließend
ineinander
über. Und da soll noch ein-
mal wer meinen, liebstes
Ostfriesland, du seist nicht
der Himmel auf Erden.
7. Das schönste Ende der
Welt:
Ich stehe auf einer Be-
tonplattform inmitten des
Wattenmeers.
Der
Wind
rauscht um mich herum,
presst mir die Klamotten an
den Leib und peitscht mir die
Haare ums Gesicht. Graue
Wellen strecken ihre Zungen
nach den Steinen zu meinen
Füßen aus. Bis auf die unzäh-
ligen Wildgänse, die über den
Himmel ziehen und dann
hier rasten, bin ich allein.
Und wie ich mich setze, auf
die Bank neben dem Münz-
fernrohr, dem Relikt aus an-
deren Zeiten, denke ich so
bei mir, dass ich nirgendwo
so schön allein bin wie hier
bei dir, liebes Ostfriesland.
Hier am „Endje van de Welt“
– auf der Bohrinsel in Dyks-
terhusen. Und dass, wenn
das hier wirklich das Ende
der Welt sein sollte, ich damit
ganz einverstanden bin.
8. Die
schwarzbunten
Schönheiten:
Spätestens
seitdem mit der Miss-Wahl
keine adrette Brünette, son-
dern eine schwarzweiße Kuh
(oder schwarzbunte Kuh, wie
es hier richtig heißt) ausge-
lobt wird, ist klar: Die Kuh ist
vom ostfriesischen Acker
nicht wegzudenken. Im Win-
ter sehen deine Felder, liebes
Ostfriesland, darum auch
schrecklich trist aus. Der ost-
friesische Frühling beginnt
für mich also nicht mit den
ersten Knospen, sondern
dann, wenn die Milchkühe
wieder über die Weiden zie-
hen. Und sowieso: Was wäre
ein Spaziergang durch den
Hammrich ohne den Geruch
von Gülle?
9. Die
schier
endlose
Weite:
Nicht erst seit Corona-
Zeiten weiß ich diesen Punkt
besonders zu schätzen. Wenn
mir die Häuserblöcke der
Großstadt zu eng werden, die
Luft zu stickig und der Blick
in den Himmel versperrt ist,
fahre ich zu dir, liebes Ost-
friesland. Nirgendwo bekom-
me ich den Kopf so frei:
Wenn sich die Wege endlos
ziehen, die Halme sich am
Straßenrand träge deinem
Wind beugen und der einzige
„Berg“ weit und breit der
Deich ist – dann bin ich zu
Hause.
10. Die wortkargen Be-
wohner:
In Zeiten, in denen
ein jeder auf allen Kanälen
mit Informationen bombar-
diert wird, sind Ostfrieslands
wortkarge Bewohner Balsam
für meine Seele. In diesem
Sinne: Genug mit dem Ge-
sabbel. Ik hebb jo leev.
EineLiebeserklärung anOstfriesland
HEIMAT
Autorin Sylvie Gühmann erklärt in zehn Punkten, was ihr Zuhause so besonders macht – amAnfang steht das „Moin“
VON SYLVIE GÜHMANN
Am „Endje van de Welt“: Dieses Foto hat Sylvie Gühmann im Rheiderland gemacht, in der Nähe von ihrem Lieblingsplatz – der Bohrinsel in Dyksterhusen.
BILD: GÜHMANN
„Ich lese gerne die OZ, weil ich täglich zu unterschiedli-
chen Themen aus meiner näheren Umgebung
informiert werde.“
Helmut Tammen, Meinersfehn
Freitag, 9. Oktober 2020, Seite 35
Sylvie Gühmann
wurde
1994 in Leer geboren. Sie
machte hier ihr Abitur und
absolvierte bei der Zei-
tungsgruppe Ostfriesland
eine Ausbildung zur Re-
dakteurin (Volontariat).
Jetzt studiert sie in Ham-
burg und arbeitet als freie
Autorin, Fotografin und
Journalistin.
Die 26-Jährige
nimmt re-
gelmäßig an Poetry
Slams teil. Sie widmet
sich vor allem den
„Spleens der Ostfriesen“.
In ihrem ersten Buch,
dem „Fettnäpfchenführer
Ostfriesland“ hat sie ihre
Heimat liebevoll für Nicht-
Ostfriesen erklärt.
Ein zweites Buch
mit dem
Titel „Unterwegs mit dei-
nen Lieblingsmenschen“
widmet Sylvie Gühmann
jetzt ihrer Wahlheimat
Hamburg. Es erscheint im
Januar.
Zur Person
Im Ostfriesen-Nerz mit Teetasse und Pappkuh an der
Jümme: Sylvie Gühmann liebt ihre Heimat.
BILD: ORTGIES