

„Die OZ gibt mir Orientierung über die Themen, die
ganz Ostfriesland bewegen. Zudem gibt es dort noch
Fachredakteure, die die Region kennen.“
Dr. Udo Fecht, Aurich
Freitag, 9. Oktober 2020, Seite 36
er Fortschritt Ost-
frieslands hängt im-
mer auch an einzel-
nen
Menschen,
meint Dr. Torsten Slink. Stets
gehe es um großartige Ideen,
um mutige Entscheidungen
und um geschickte Struktur-
veränderungen. Paradebei-
spiel ist für den Hauptge-
schäftsführer der ostfriesi-
schen Industrie- und Han-
delskammer (IHK) der Unter-
nehmer Aloys Wobben.
„Damals, Mitte der 1980er
Jahre, war Ostfriesland das
Armenhaus
Westdeutsch-
lands“, sagt Slink. Die Ar-
beitslosenquote habe bei 20
bis 25 Prozent gelegen. Wenig
Industrie,
der
Tourismus
noch in den Anfängen, eine
starke
landwirtschaftliche
Prägung. Mit der Gründung
von Enercon durch Aloys
Wobben im Jahr 1984 habe
ein großer Strukturwandel
eingesetzt – hin zur Konzen-
tration auf erneuerbare Ener-
gien. Das treibt Ostfriesland
bis heute an. Ein bisschen
Glück und eine passende
geografische Lage mögen si-
cher auch eine Rolle spielen.
Eine hohe Arbeitslosen-
quote war auch Mitte der
1980er Jahre für Ostfriesland
nichts Neues. Bereits 1950 lag
die Quote im Bezirk Emden
bei mehr als 23 Prozent, im
Bezirk Leer waren es gut 20
Prozent. Mit der Eröffnung
des VW-Werks in Emden
1964 wurden dann in kürzes-
ter Zeit tausende Arbeitsplät-
ze geschaffen – der erste gro-
ße Strukturwandel nach dem
Krieg. Zahlreiche Zulieferer
siedelten sich an, die ganze
Region profitierte und profi-
tiert.
Heute steht das VW-Werk
Emden genau wie alle ande-
ren Automobilproduktions-
stätten des Globus‘ erneut
vor einer riesigen Herausfor-
derung: den Anschluss nicht
zu verlieren zur Mobilität der
Zukunft mit Hilfe von erneu-
erbaren Energien. Volkswa-
gen investiert allein in den
Standort Emden rund eine
Milliarde Euro. Das macht
Mut. Was aber für den Kon-
D
zern selbst gilt, trifft auch die
vielfältige Zuliefererbranche.
Hier wird aktuell an zahlrei-
chen Stellschrauben gedreht,
um die mittelständischen
Unternehmen auf die Reise
mitzunehmen. Nicht alle
werden es wohl schaffen. Da-
für dürften neue Unterneh-
mungen entstehen.
„Das ist der Vorteil von
Ostfriesland“,
sagt
IHK-
Hauptgeschäftsführer Slink.
„Wir sind sehr breit aufge-
stellt – viel, viel breiter als
Mitte der 80er Jahre.“
Diese
Feststellung
gilt
wohl nicht zuletzt für die
Tourismusbranche. Zwar lei-
det besonders das Hinterland
aktuell unter der Corona-Kri-
se. Dafür zählen aber die
Küste und die Inseln zu den
stärksten Tourismusgebieten
Niedersachsens und sogar
Deutschlands.
Mehr
als
15 Millionen Gäste besuch-
ten 2019 Niedersachsen. In
Ostfriesland hängen 50 000
Arbeitsplätze an der Branche.
Das dürfte auch noch einige
Zeit so bleiben. Erst vor Kur-
zem hat das Landeswirt-
schaftsministerium mehrere
Millionen Euro in den örtli-
chen Tourismus investiert.
„Eigentlich fehlen hier nur
noch ein paar Berge und Ski-
lifte“, scherzt Slink. Dabei
sind Investitionen in die In-
frastruktur stets eine wichti-
ge Begleiterscheinung der
wirtschaftlichen Entwicklung
der Region gewesen. Schon
in den 1950er Jahren wurde
die Verbesserung der Landes-
und Bundesstraßen ange-
schoben. In den Achtzigern
begannen dann erste Ver-
handlungen zum Lücken-
schluss der A31. Im Jahr 2004
wurde das letzte Teilstück
fertiggestellt, mit dem die
A31 das Ruhrgebiet und die
Nordsee verbindet.
Von der guten Infrastruk-
tur und natürlich der geogra-
fischen Lage profitiert auch
die Meyer-Werft im emslän-
dischen Papenburg – wo im-
merhin etwa die Hälfte der
Mitarbeiter aus Ostfriesland
kommt. „Die Meyer-Werft ist
technologisch weit vorn – ge-
rade auch bei neuen umwelt-
freundlichen Antrieben“, sagt
Slink. „Umso dramatischer
ist jetzt die Krise. Aber dafür
kann die Werft ja nichts.“ In
Papenburg geht es jetzt da-
rum, Arbeitsplätze zu sichern
– und vor allem darum, den
Werftenstandort zu retten.
Bei den von der Geschäfts-
führung eingeforderten Ein-
sparungen in Höhe von mehr
als 1,2 Milliarden Euro dürfte
wohl nicht jeder Job gerettet
werden. Aber auch dann wä-
re Meyer immer noch einer
der großen Arbeitgeber der
Region.
Genau wie Enercon: Jene
Unternehmen, die jetzt noch
am Windenergieanlagenbau-
er in Aurich hängen, hoffen
allesamt auf die erfolgreiche
Kehrtwende des Pilotunter-
nehmens Enercon. Dann
bliebe Ostfriesland Vorreiter
in der Onshore-Energie. Bei
der Diskussion über die
Windenergie an Land wird in
der Region allerdings häufig
die mindestens genauso er-
folgreiche Offshore-Energie
vergessen. Auch davon profi-
tieren Unternehmen in Ost-
friesland. Das liegt, wie IHK-
Mann Slink sagen würde,
eben auch an der breiten
Aufstellung der Wirtschaft.
Ein Blick auf die Fort-
schrittsbranchen
Ostfries-
lands wäre wohl unvollstän-
dig, bliebe die Landwirt-
schaft unerwähnt. Über den
Einsatz neuer Technologien
wird hier ebenso diskutiert
wie die Wechselwirkung von
Landwirtschaft und Klima-
wandel – wobei die Betonung
hier
auf
Wechselwirkung
liegt. Keine Berufsgruppe ist
sich der Bedeutung des Kli-
mas wohl so bewusst wie die
Bauernschaft. Auch das wird
in aktuellen Wortgefechten
gern einmal vergessen. Gera-
de in Ostfriesland stehen die
Landwirte nun durch neue
Ideen zum Gewässerschutz
mächtig unter Druck. Der
Strukturwandel ist also auch
hier in vollem Gang.
Aber was bedeutet über-
haupt Strukturwandel auf
Ostfriesisch? „Strukturwan-
del klingt immer so, als
müsste sich jetzt sofort alles
total ändern“, sagt Slink von
der IHK. „Das stimmt doch
so nicht.“ Anders ausge-
drückt: In Ostfriesland wird
auch künftig Strom erzeugt,
es werden Autos gebaut,
Schiffe hergestellt, Urlaubs-
gäste empfangen – und ja,
auch viele, viele Kühe –
160 000 sollen es derzeit sein
– werden weiterhin die Land-
schaft prägen.
Die treibendeKraft derEnergiewende
WIRTSCHAFT UND ARBEIT
Warum Ostfriesland stärker denn je für regionale, nationale und internationale Krisen gewappnet ist
VON MARTIN TESCHKE
Energie mit Zukunft: Windkraftanlagen in Ostfriesland.
BILD: ALBERTS
Autostandort: Volkswagen
in Emden.
BILD: ORTGIES
Wer ft-Standort: Meyer in
Papenburg.
BILD: ORTGIES
Tourismus-Standort: etwa
in Norddeich.
BILD: ORTGIES
Landwirtschaft: Grünland
und Viehhaltung.
BILD: ORTGIES
er auf die ostfrie-
sische Wirtschaft
in den vergange-
nen sieben Jahr-
zehnten blickt, kommt an
den
Finanzdienstleistern
nicht vorbei – jenen Institu-
ten, die gerade den so wichti-
gen Mittelstand mit seinen
vielen Arbeitsplätzen stützen.
Die Ostfriesische Volksbank
(OVB) zum Beispiel hat dabei
zusätzlich ein ganz besonde-
res Geschäft im Blick: Schiffs-
finanzierungen. Es geht um
Hunderte Millionen Euro
und immer auch um ein we-
nig Abenteuer.
„Insgesamt kümmern wir
uns um ein Kreditvolumen
bei der Finanzierung in der
Seeschifffahrt von einer Mil-
liarde US-Dollar“, sagt OVB-
Vorstand Holger Franz im
Gespräch mit der OZ. Im Jahr
2008 hatte die Bank etwa
100 Schiffe von damals insge-
W
samt 3800 unter deutschem
Management im Portfolio.
Zurzeit gibt es nach Angaben
des Verbands Deutscher Ree-
der gut 2000 Handelsschiffe
in
deutschem
Eigentum.
Franz: „Wir finanzieren heute
mehr als 300 davon, decken
also 15 Prozent des Marktes
ab.“ Zurzeit hat die OVB
400 Millionen Euro an Kredi-
ten im eigenen Buch, weitere
etwa 400 Millionen Euro bei
Partnern unter ihrer Konsor-
tialführerschaft.
Vom vergleichsweise klei-
nen Leer aus finanziert die
OVB vor allem Schiffe aus
dem Nordwesten, die haupt-
sächlich in Europa in Nord-
und Ostsee und im Mittel-
meer unterwegs sind. Ein
Drittel der Schiffe ist aber
auch weltweit im Einsatz. Es
handelt sich dabei um spezi-
elle Schiffsklassen wie zum
Beispiel so genannte Multi-
Purpose-Schiffe, also Mehr-
zweck-Frachtschiffe mit ei-
nem Neubauwert zwischen
acht und 20 Millionen Euro.
In der Regel beträgt der Ban-
kenanteil an der Finanzie-
rung etwa die Hälfte, der Rest
resultiert aus dem Eigenkapi-
tal der Reeder. Container-
Riesen oder gar Kreuzfahrt-
schiffe wären ein paar Num-
mern zu groß für die OVB.
Denn: „Obwohl wir im Markt
der
Schiffsfinanzierungen
weiter wachsen, werden wir
das Volumen der Kredite in
der
Seeschifffahrt
unter
20 Prozent unseres Gesamt-
kreditvolumens halten“, be-
tont Franz.
Obwohl man sich in Leer
gern bescheiden gibt, sind
bei dieser Art von Geschäften
internationale
Verwicklun-
gen nicht ganz ausgeschlos-
sen. „Da wir die Risiken gut
abschätzen können, läuft das
Geschäft äußerst reibungslos
– jedenfalls meistens“, sagt
Guido Mülder, Leiter Firmen-
kunden Seeschifffahrt bei der
OVB. „Auch mit Piraten ha-
ben wir schon unsere Erfah-
rungen machen müssen.“
Der Vorfall liegt fast zehn
Jahre zurück. Laut Mülder
hatte sich das LKA damals in
der betroffenen Reederei ein-
quartiert und wochenlang
mit den Piraten in Somalia
verhandelt.
„Irgendwann
musste ich die Lösegeldsum-
me zu einer gecharterten An-
tonow bringen – mitsamt
deutschen Kopfschmerztab-
letten, die einer der Unter-
händler unbedingt haben
wollte“, erinnert sich Mülder.
„Das war schon etwas skur-
ril.“ Das Geld sei dann über
dem Meer abgeworfen wor-
den. Wie sich später heraus-
gestellt habe, hätten die
Drahtzieher in Europa geses-
sen. Mehr Details sind dem
Banker nicht zu entlocken.
Trotz aller Widrigkeiten
setzt die OVB weiter auf
Schiffsfinanzierungen, macht
sich allerdings auch Sorgen.
„Unterm Strich sehe ich die
deutsche Handelsschifffahrt
in Gefahr“, sagt Vorstand
Franz. Immer weniger Han-
delsschiffe stünden unter
deutschem
Management.
Und wenn die Schiffe in
Deutschland nicht mehr fi-
nanziert würden, dann gehe
auch ein Teil der Wertschöp-
fungskette verloren. Er fürch-
tet, dass Finanzierungslü-
cken entstehen – auch im
Hinblick auf die viel disku-
tierte Energiewende. Franz:
„Wer soll denn zum Beispiel
all die neuen, ökologischen
Schiffe finanzieren?“
Ostfriesisches Geschäft auf den Meeren dieser Welt
FINANZDIENSTLEISTUNGEN
Von Leer aus hat die OVB 300 Handelsschiffe im Blick – Kreditvolumen von einer Milliarde Dollar
VON MARTIN TESCHKE
Setzen auf Schiffsfinanzierungen: Holger Franz (links) und
Guido Mülder von der Ostfriesischen Volksbank.
BILD: TESCHKE