

„70 Jahre ist ein tolles Alter! Ich wünsche der OZ
mindestens weitere 70 Jahre – auch als gedruckte
Zeitung! Nichts ist schöner, als morgens beim Kaffee die
Zeitung aufzuschlagen!“
Holger Müller, Pilsum
Freitag, 9. Oktober 2020, Seite 25
er schreibt regel-
mäßig in der Ost-
friesen-Zeitung
(OZ), ist aber kein
Redakteur und auch kein
Freier Mitarbeiter? Das sind
die Leserbriefschreiber.
Einer der fleißigsten von
ihnen ist Rudolf Onnen aus
Moormerland. Der 65-Jährige
ist ein Spätberufener. Aus-
weislich des elektronischen
OZ-Archivs hat er erst am
18. Oktober 2018 angefangen
– und wie! Mehr als 60 Leser-
briefe sind zu finden.
Erweitert man die Suche
auf die ganze ZGO Zeitungs-
gruppe Ostfriesland GmbH,
dann sind es sogar fast dop-
pelt so viele. Denn Onnen
hat die OZ im Abo und kauft
sich die Ostfriesischen Nach-
richten (ON) täglich im La-
den, wie er erzählt. Und das
seien nicht die einzigen Ta-
geszeitungen, in denen er Le-
serbriefe veröffentlicht habe.
Aber in der OZ und den ON
schreibt er am häufigsten.
Auch die ON hätte er übri-
gens gerne abonniert. Doch
sie werde in Moormerland
per Post zugestellt, sagt er –
dann komme sie erst nach-
mittags. Das ist ihm zu spät.
Der Arbeitstag eines
Leserbriefschreibers
Seine OZ liest Onnen Som-
mers über schon in aller
Herrgottsfrühe: um fünf. Die
ON folgen nach acht Uhr.
Früher gehe nicht, erläutert
er, weil das Zeitungsgeschäft
erst dann öffne. Bis 9 Uhr ha-
be er in der Regel seinen Le-
serbrief fertig, sofern er ei-
nen schreibe. Außer den ver-
öffentlichten Werken habe er
bestimmt noch 50 bis 60 wei-
tere geschickt, die nicht ge-
druckt worden seien, schätzt
er. Und weitere hätten nie
seinen
Computer-Speicher
verlassen. Nämlich dann,
wenn sie seinen abschließen-
den Fakten-Check nicht be-
standen hätten oder er sich
im Ton vergriffen habe.
Im Unterschied zu vielen
anderen regelmäßigen Leser-
briefschreibern hat Onnen
kein
Schwerpunktgebiet.
Okay, zum Zentralklinikum
hat er sich wiederholt geäu-
ßert. Aber er teilt seine Mei-
nung auch zu Verkehrsfra-
gen, der Wohnraumsituation,
der Landwirtschaft, dem Kli-
mawandel und der Gewerbe-
steuer-Lage mit. Er schreibt
zudem über Parkplätze, Fuß-
ball-Bundestrainer Jogi Löw,
Wölfe, Beamten-Pensionen,
Schottergärten, die blaue Pa-
pier-Tonne, die Sitzordnung
des Auricher Kreistags, Do-
nald Trump und die EU-
Kommissions-Präsidentin
Ursula von der Leyen – und
über vieles andere mehr.
Besonders am Herzen liegt
ihm aber die Verwendung öf-
fentlicher Mittel. Onnen hat
den Eindruck, dass Politiker
häufig zu sorglos mit dem
Geld umgehen, das nicht ih-
res ist, sondern das der Bür-
ger. Das betreffe beispiels-
weise das Zentralklinikum,
das in Georgsheil gebaut
werden und die Kranken-
haus-Standorte Emden, Au-
rich und Norden vereinen
soll. Der Moormerländer, der
in Friedeburg geboren wurde
und bis vor einigen Jahren im
Landkreis Aurich gewohnt
W
hat, rechnet mit gehörigen
Kostensteigerungen. Aussa-
gen eines Staatssekretärs zu
diesem Vorhaben habe er
mal als Grundlage für eine ei-
gene Hochrechnung genom-
men, sagt er. Deren Ergebnis:
700 Millionen Euro.
Ein Soldat, der auf
freie Entfaltung setzt
Onnens Credo: Man brauche
Wirtschafts-Fachleute
für
Großprojekte, die unabhän-
gig von der Parteipolitik han-
deln. Selbst wenn so ein Ver-
waltungsmitarbeiter 100 000
Euro im Jahr koste, sei das
wesentlich billiger als eine
Preis-Explosion, wie es sie
bei vielen Vorhaben gebe. Ein
Fehler im System sei, dass
Politiker die Regeln selbst
festlegen könnten, die es ih-
nen erlaubten, Schulden auf-
zunehmen.
Jemand der thematisch so
breit aufgestellt ist, kann in
den Verdacht geraten, ein
pensionierter Lehrer zu sein.
Rudolf Onnen hat ein Berufs-
leben lang in der „Schule der
Nation“ gearbeitet, bei der
Bundeswehr. Der Haupt-
mann war unter anderem als
Personaloffizier in zwei Ba-
taillonen eingesetzt. Privat
scheint er vom Drill aller-
dings nicht so viel zu halten.
Das Ehepaar Onnen hat
zwei Töchter und drei Enkel-
kinder. „Meine Enkel dürfen
machen, was sie wollen“, er-
zählt der Großvater. Mit einer
Einschränkung: „So lange sie
sich dabei nicht selbst ge-
fährden.“ Dem Opa ist die
freie Entfaltung der Kinder
derart wichtig, dass er dafür
auch schon einen Tadel der
Eltern in Kauf genommen
hat. Der ehemalige Berufs-
soldat passt folglich so gar
nicht in irgendeine sprich-
wörtliche Schublade.
Für wen und was
Onnen Partei ergreift
Seine Leserbriefe sind facet-
tenreich, Onnen weiß inhalt-
lich immer wieder zu überra-
schen. Einerseits hat er bei-
spielsweise die Bedürfnisse
der Landwirte im Blick, wenn
es um die Forderung nach
Naturschutz-Streifen entlang
von Gewässern geht. Was in
anderen Teilen der Republik
sinnvoll sei, könne nicht auf
das von Kanälen, Wieken und
Gräben durchzogene Ost-
friesland angewendet wer-
den, findet er. Andererseits
ist ihm der Artenschutz wich-
tig. Stichwort Insektenster-
ben: „Vor 20 Jahren musste
man im Sommer jeden Tag
die Windschutzscheibe reini-
gen“ – heutzutage sei das oft
über Wochen hinweg nicht
nötig. Im eigenen Garten hat
er deshalb Blumen gesät. Al-
lerdings ist Onnen der Über-
zeugung: „Die großen Tiere
sterben eher als die kleinen“
– die Menschen inklusive.
„Die Welt geht nicht unter,
wir entsorgen nur unsere Le-
bensgrundlage.“
Verschiedene Aspekte ei-
nes Themenkomplexes zu
betrachten, so wie Rudolf
Onnen das im Spannungsfeld
zwischen Landwirtschaft und
Artenschutz tut, das ist ein
Grundprinzip des Leserbrief-
schreibers: „Man muss das
alles ins Verhältnis setzen.“
Die Perspektive, die er dabei
einnimmt, ist die eines kriti-
schen Beobachters: „Ich sehe
das distanziert.“
Mitglied einer politischen
Partei sei er nie gewesen, sagt
Onnen: „Ich bin nur in der
,Ostfriesischen Heimat‘ hei-
misch geworden. Politisch
ordnet er sich im „Zentrum“
ein. Die CSU stuft er als „Mit-
te – leicht rechts“ ein, die
CDU als „Mitte – ganz leicht
links“. FDP, SPD und Grüne
zählt er ebenfalls zur Mitte.
Die Unterschiede zwischen
diesen Parteien seien „relativ
marginal“ geworden: „Heute
ist ja sogar Söder grüner als
manche Grüne“, sagt er über
den bayerischen CSU-Minis-
terpräsidenten. Allein „Die
Linke“ sei als einer Art „bes-
sere SPD“ links der Mitte, er-
klärt Onnen – und die AfD
„ganz rechts außen“.
Onnen ist alles andere
als ein Wutbürger
Einer, der so häufig Leser-
briefe schreibt wie er, der
trägt – so könnte man vermu-
ten – einiges an Ärger in sich.
Doch weit gefehlt. Im Ge-
spräch mit der OZ machte
der Ruheständler einen tie-
fenentspannten
Eindruck:
„Man sollte alles etwas gelas-
sener angehen und es nicht
so verkniffen sehen.“
Wohlgemerkt könnte er
Leserbriefe derzeit nicht ein-
mal als mögliches Ventil nut-
zen. Aufgrund eines Wasser-
schadens in der Wohnung
musste das Ehepaar Onnen
nämlich für die Dauer der Sa-
nierungsarbeiten in ein Feri-
enhaus umziehen – und dort
ist die Internet-Verbindung
des Laptops offenbar insta-
bil. Marlene Onnen verrät al-
lerdings: „Wenn er seine fünf
Minuten hat, dann schreibt
er! Da ist es egal, ob das
durchläuft oder nicht …“
Was damit gemeint sein
könnte, das ist zu erahnen,
wenn Rudolf Onnen auf die
selbst ernannten „Querden-
ker“ in der Corona-Krise zu
sprechen kommt. Bei einer
entsprechenden Demonstra-
tion in Berlin habe ein De-
monstrant gesagt, dass er da-
gegen demonstriere, dass er
nicht demonstrieren dürfe.
„Das ist sowas von unlo-
gisch“, sagt Onnen und be-
tont: „Wir können froh sein,
dass wir in Deutschland le-
ben und unsere Meinung
kundtun können!“
Als er sich erstmals
aufs Glatteis begab
An seinen ersten Leserbrief
kann sich Rudolf Onnen
noch gut erinnern. Den habe
er „vor sieben oder acht Jah-
ren“ geschrieben, schätzt er:
„Es gab mal eine Zeit, da ist
in Ostfriesland Schnee gefal-
len.“ Und damals seien man-
che Nebenstraßen nicht ge-
räumt worden. Als die Eis-
schicht vor dem Haus einer
seiner Töchter fast zehn Zen-
timeter dick gewesen sei, ha-
be er gefordert, dass endlich
ein Räumfahrzeug kommt.
Warum es danach noch
Jahre gedauert hat, bis On-
nen sich regelmäßig zu The-
men äußerte, das kann er
selbst nicht erklären. Es sei
auch keinem besonderen Er-
lebnis oder Anlass geschuldet
gewesen, dass er seit 2018
viele Leserbriefe schreibe.
Dass er aktiv geworden ist,
hat damit zu tun, dass er sich
mehr bürgerliche Beteiligung
wünscht: „Es ist eigentlich
bedauerlich, wie viele Men-
schen passiv sind“, findet
Onnen. Das habe ihn früher
schon als Elternvertreter in
der Schule gestört. Mit sei-
nen Leserbriefen will er et-
was aufrütteln, zur Diskussi-
on anregen, andere aus der
Reserve locken.
Wann Onnens
Rechnung aufgeht
Rund zehn Mal habe sich
nach einem Leserbrief je-
mand bei ihm gemeldet, weil
er derselben Meinung gewe-
sen sei, berichtet Rudolf On-
nen. Zwei, drei Mal habe er
ein negatives Feedback er-
halten. Und auf zwei seiner
Leserbriefe hin sei ein „Con-
tra-Leserbrief“
gekommen.
Onnen findet das gut. Er hat
aber nicht das Bedürfnis,
dann zu erwidern. Denn sei-
ne Meinung stehe ja schon
im ersten Leserbrief.
Mit der Längenbegren-
zung der Meinungsäußerung
– 1500 Zeichen sind die
Obergrenze eines OZ-Leser-
briefs – kämpfe er allerdings
manchmal, berichtet Onnen.
„Dadurch kann man nur ein
oder zwei Aspekte heraus-
greifen.“ Das lasse den Text
manchmal
„unvollständig
oder einseitig erscheinen“.
Dass sich die für ihn fest-
stellbaren Reaktionen auf
seine Leserbriefe zahlenmä-
ßig in Grenzen halten, stört
den Moormerländer nicht –
ganz im Gegenteil. Er macht
folgende Rechnung auf: Bei
einer Auflage von 30 000
Exemplaren gehe er davon
aus, dass die OZ ungefähr
von 45 000 Personen gelesen
werde. Falls davon zehn Pro-
zent seine Leserbriefe zur
Kenntnis nähmen, seien das
4500 Leute. Rudolf Onnen:
„Wenn nur jeder Zehnte sich
Gedanken darüber macht –
egal, ob positiver oder nega-
tiver Art – dann hat man
schon etwas bewegt.“
Rudolf Onnen–wer ist derMister Leserbrief derOZ?
PORTRÄT
Ein Leser, der mehr Berichte in der Zeitung kommentiert als manche Redakteure, muss offenbar früh aufstehen
VON ANDREAS ELLINGER
Rudolf Onnen mit einer Tasse Kaffee und der OZ vor dem Laptop. Rechts neben ihm liegt der Ordner, in dem er seine Leserbriefe archiviert.
BILD: ELLINGER