„Van Harten graleer ik! Blievt in d‘Tokunft plietsch, freei
un wacker, wenn ji up Welt kiekt. De Verantwoorden up
jo Siet is in disse Tieden groot, aver wenn een de dragen
kann, denn de OZ.“
Annie Heger, Berlin
Freitag, 9. Oktober 2020, Seite 4
stfriesland ist ein-
zigartig in Deutsch-
land. In den meisten
Regionen gibt es nur
noch
eine
Tageszeitung.
Selbst in vielen deutschen
Großstädten – von Augsburg
bis Wuppertal – herrscht Mo-
notonie. Wo es früher eine,
zwei oder gar drei Tageszei-
tungen mit lokaler Berichter-
stattung gab, ist nur noch ei-
ne geblieben. In Ostfriesland
hingegen mit seinen nicht
einmal 500 000 Einwohnern
gibt es neun Zeitungstitel.
Der kleinste ist die Borkumer
Zeitung, die vier Mal in der
Woche erscheint und eine
verkaufte Auflage von knapp
850 Exemplaren hat. Die
größte die Ostfriesen-Zeitung
mit gut 30 000 Auflage, an
sechs Tagen in der Woche.
Bis auf den nördlichen
Landkreis Leer (Moormer-
land, Hesel, Uplengen, Jüm-
me) erscheinen überall min-
destens zwei Blätter, in vielen
Gebieten konkurrieren sogar
drei um Leser, beispielsweise
in der Krummhörn und Hin-
te, in Norden und in Wies-
moor. Fast möchte man sa-
gen, wir haben hier paradie-
sische Zustände für die De-
mokratie. Aber das wäre wohl
ziemlich vermessen, nicht
nur, weil die einzelnen Zei-
tungen ihren Auftrag ziem-
lich unterschiedlich definie-
ren.
Von Pressefreiheit ist erst-
mals in deutschen Landen
1832 beim Hambacher Fest
die Rede. Die folgende bür-
gerliche Revolution bringt
1848 zwar nicht die alte Fürs-
tenordnung zu Fall, leitet
aber deren Niedergang ein.
Fortan ist die staatliche Zen-
sur für Zeitungen abge-
schafft. Der Bedarf der auf-
strebenden
Bürgerschaft
nach wöchentlicher und gar
täglicher Lektüre ist groß.
Nach dem Leerer Anzeige-
blatt werden in Weener
(Rheiderland-Zeitung, 1860),
Wittmund (Anzeiger für Har-
lingerland,
1862),
Aurich
(Ostfriesische Nachrichten,
1864), Norden (Ostfriesischer
Kurier, 1867), Borkum (1881)
und Rhauderfehn (der heuti-
ge General-Anzeiger, 1888)
Zeitungen gegründet.
Die Emder Zeitung gab
es gleich zwei Mal
Erst 1900 folgt die als Rhein-
Ems-Zeitung
gegründete
heutige Emder Zeitung (so
heißt sie seit 1975). Sie ist
aber nicht die erste Zeitung
in der Seehafenstadt. Das in
seiner politischen Ausrich-
tung linksliberale Blatt kon-
kurriert mit der bereits 1812
gegründeten Ostfriesen-Zei-
tung und der bürgerlich-ge-
sinnten Emder Zeitung, die
1935 von den Nazis dicht ge-
macht wird. Viele ostfriesi-
sche Drucker versuchen sich
in der Gründerzeit als Verle-
ger. Die meisten Titel sind
nur noch Historikern be-
kannt. Spätestens die Gleich-
schaltung der Medien nach
1933 führt zur Einstellung
auch fast aller ostfriesischen
Titel. Fortan gibt es nur noch
nazitreue Zeitungen, die der
Zensur unterliegen.
Die alliierten Siegermäch-
te des Zweiten Weltkrieges,
jedenfalls die USA, Großbri-
tannien und Frankreich, wis-
O
sen, wie wichtig eine freie,
unabhängige Presse für die
Demokratie ist. Die alten
Heimatverleger, so mancher
von ihnen hatte sich mit den
Nazis gemein gemacht, dür-
fen ihre Zeitungen erstmal
nicht wieder eröffnen. Statt-
dessen vergeben die Besat-
zungsmächte Lizenzen an
politische Gegner der Natio-
nalsozialisten,
altgediente
SPD-Leute oder auch an
Männer, die im Widerstand
gewesen waren. So entsteht
die Nordwest-Zeitung in Ol-
denburg, die eine Unteraus-
gabe für Ostfriesland hat –
den Vorgänger der 1950 ge-
gründeten OZ.
Mit dem Grundgesetz fällt
im Mai 1949 der Lizenz-
zwang: Nach wenigen Mona-
ten sind alle Heimatverleger
wieder mit ihren früheren Ti-
teln am Start. Ausnahme ist
das „Leerer Anzeigeblatt“, die
Lücke füllt später die Ostfrie-
sen-Zeitung.
Und es werden goldene
Jahrzehnte für die Verlegerfa-
milien, bei denen inzwischen
schon die dritte oder vierte
Generation am Ruder ist. Die
Auflagen steigen unaufhör-
lich, und ab dem Wirtschafts-
wunder sorgt die Anzeigen-
werbung für Umsatzrenditen,
die vielfach deutlich jenseits
der 30 Prozent liegen. Kein
Wunder, es gibt ja für regio-
nale Unternehmen kein an-
deres Medium, in dem sie
werben können. Und selbst
als dann in den 1980er Jahren
die kostenlosen Wochenblät-
ter aufkommen, gefährdet
das die Ertragslage der Tages-
zeitungen nicht. Die meisten
Anzeigenblätter gehören den
Zeitungsverlagen.
Kennen Sie den kürzesten
Witz? Es ist nur ein Satz: Zwei
Verleger sind sich einig. Zwar
haben sich 1950 die ostfriesi-
schen Heimatzeitungsverle-
ger (mit Ausnahme der Rhei-
derland-Zeitung)
zusam-
mengetan, um gemeinsam
die Ostfriesen-Zeitung he-
rauszugeben und daran zu
verdienen.
Zu viel Reichtum
macht übermütig
Man verreist zusammen, fei-
ert gemeinsam, aber man ist
sich auch spinnefeind. Und
so gelten irgendwann die al-
ten Grenzen nichts mehr. Ob
Zufall oder nicht: Alles fängt
an, als Ende der 1970er Jahre
die Einführung des Fotosat-
zes dem Guttenberg‘schen
Bleisatz den Garaus macht.
In Emden hat da gerade
Jungverleger Edzard Gerhard
übernommen. Ambitioniert
und kampfeslustig. Er mo-
dernisiert die Zeitung inhalt-
lich, beendet die technische
Zusammenarbeit mit dem
Ostfriesischen Kurier in Nor-
den und gründet 1976 ein
Anzeigenblatt für Emden und
Umland. Das ist wirtschaft-
lich ein Schlag für die OZ,
verlangte doch das Heimat-
blatt Emden viel weniger für
den Anzeigenmillimeter.
Damit nicht genug: 1980
baut Gerhard seine eigene
Druckerei – bis dahin wurde
die EZ in Norden produziert
–, was den Ostfriesischen Ku-
rier erneut in wirtschaftliche
Schieflage bringt. Keiner der
anderen Verleger hatte zuvor
etwas gewusst. Und dann
lässt der Emder Unterneh-
mer sein Heimatblatt auch in
den Landkreisen Aurich und
Wittmund erscheinen. Eine
Kampfansage an die dortigen
Verlage.
Lange gut geht das aller-
dings nicht. Ende 1984 steht
die Druckerei vor der Insol-
venz. Nur weil die Verlage
aus Leer, Norden, Aurich und
Rhauderfehn in Emden ein-
steigen und sich zu gleichen
Anteilen an der Ostfriesische
Pressedruck (OPD) beteili-
gen, geht das Abenteuer für
Edzard Gerhard glimpflich
aus.
Ganz ohne Eigennutz ge-
schieht die Rettungsaktion
der Heimatverleger natürlich
nicht. Sie arbeiteten zu die-
sem Zeitpunkt überwiegend
mit völlig veralteten Drucke-
reien. Die der ON in Aurich
beispielsweise stammte aus
dem Jahr 1938. Die Konzen-
tration auf zwei Druck-
Standorte (Leer und Emden)
erlaubt
den
OPD-Gesell-
schaftern so große Rationali-
sierungseffekte, dass das Mi-
nus aus den harten Jahren
mit dem Heimatblatt schnell
aufgeholt ist.
Also alles wieder gut im
ostfriesischen Verlegerreich?
Nein, im Süden gründet nun
GA-Verleger Dr. Gerfried En-
gelberg ein Anzeigenblatt,
den „Wecker“, und profitiert
dabei von niedrigen Druck-
preisen in der OPD Leer. Der
Streit unter den Gesellschaf-
tern ist heftig, 1992 scheidet
der GA aus der gemeinsamen
Druckfirma aus. Den OPD-
Standort Leer übernimmt die
Ostfriesen-Zeitung. Da aber
dort auch die anderen Verle-
ger Mit-Gesellschafter sind,
führt der Konflikt schließlich
dazu, dass der Ostfriesische
Kurier in Norden seine OZ-
Anteile an den General-An-
zeiger verkauft, der sie dann
an die NWZ ...
Hauen und Stechen in
den wilden Jahren
Kurz und gut, es ist ein Hau-
en und Stechen in den wil-
den 80er und 90er Jahren.
Erbstreitigkeiten
kommen
dazu. Und nicht zu verges-
sen, dass 1997 EZ-Verleger
Gerhard nochmal, und dies-
mal sogar mit staatlicher För-
derung, in Riepe eine Dru-
ckerei baut und somit ein
drittes Mal die Kollegen in
Norden in existenzielle Pro-
bleme bringt. Auch dieses
Abenteuer endet nicht gut
und sorgt beim dritten OPD-
Gesellschafter, der Familie
Dunkmann, für eine millio-
nenschwere
Abschreibung,
die die kerngesunden Ost-
friesischen Nachrichten kurz
an den Rand der Überschul-
dung bringt.
Noch einmal gibt es Stress
auf dem Zeitungsmarkt. Ro-
bert Dunkmann expandiert
ab 2005 mit den Ostfriesi-
schen Nachrichten in Rich-
tung der Stadt Norden und
eröffnet in Marienhafe eine
Geschäftsstelle. Kurier-Verle-
ger Christian Basse ist außer
sich. Noch 2017, in der Beila-
ge zum 150. Bestehen des
Kuriers, schreibt er von „Zei-
tungskrieg“ und hinterlegt
dies mit einer Skizze, die Vor-
marsch
und
Frontlinien
zeigt. Für drei Jahre verlegt
die Zeitungsgruppe Ostfries-
land auch die Norderneyer
Badezeitung. Insel und Fest-
land läuft nicht. Inzwischen
ist das Blatt wieder Teil des
Ostfriesischen Kuriers.
Ohnehin hat sich die Lage
inzwischen beruhigt. Die
Umsätze sind bei allen Blät-
tern rückläufig. Und die Ver-
leger wissen längst: Nicht die
andere Heimatzeitung ist
mein Gegner, sondern der
Nichtleser, also derjenige, der
das Abo abbestellt und der
Zeitung den Rücken gekehrt
hat. Also konzentrieren sie
sich darauf, gute Zeitungen
zu produzieren.
VomHauenundStechenderZeitungsverlage
HISTORIE
Knapp 140 Jahre Zeitungsgeschichte in Ostfriesland kurz erzählt – Nirgends gibt es so viele Titel wie hier
VON JOACHIM BRAUN
oog
t
B m
S
g
Wangerooge
Zetel
Varel
Bock-
Horn
Moormerland
Uplengen
Hesel
Rhede
Nordhümmling
Jümme
Wilhelms-
haven
Jever
Schortens
Sande
Wangerland
Wittmund
Esens
Friedeburg
piekeroo
Lange
Hage
Großheide
Dor
Holtriem
num
altru
Norderney
Juis
Emden
Krummhörn
Hinte
Borkum
Leer
Jemgum
Bunde
Weener
Westover-
ledingen
Papenburg
Saterland
Barßel
Rhauder-
fehn
Ost-
rhauder
fehn
Apen
Aurich
Südbrook-
merland
Ihlow
Großefehn
Wiesmoor
Norden
Brookmerland
Ostfriesen-
Zeitung
Ostfriesischer
Kurier
Rheiderland
Zeitung
Wilhelmshavener
Zeitung
General-Anzeiger
Anzeiger für
Harlingerland
Jeversches
Wochenblatt
Ostfriesische
Nachrichten
Emder Zeitung
Borkumer
Zeitung
Norderneyer
Badezeitung
Ostfriesland und
seine Zeitungen




